«Toleranz ist nie fertig»

Eine Gesellschaft ohne Toleranz kann nicht funktionieren. Davon ist der Philosoph Rayk Sprecher überzeugt. Im Interview spricht er über die Lernbarkeit dieses «Balanceakts» und verrät, wie man sich zu einem toleranten Menschen entwickelt. Ein wichtiges Stichwort dazu: «die Neugier».

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«Toleranz ist nie fertig»
«Toleranz ist nie fertig»

Herr Sprecher, Toleranz ist ein grosses Wort. Handelt es sich dabei um eine Kopfsache oder um ein Bauchgefühl?

Toleranz ist eindeutig eine Kopfsache. Ganz im Gegenteil zur Intoleranz, denn Ablehnung und Bekämpfung können wesentlich emotional fundiert sein. Wer aber tolerant sein will, braucht Gründe und Argumente – und muss dafür den Kopf einschalten.

In welcher Situation erwarten Sie von Ihren Mitmenschen Toleranz?
Toleranz ist sicher nicht immer und nicht sofort zu erwarten. Meinungen, Haltungen und Handlungen sollten zuerst geprüft werden, vielleicht können wir uns ja sogar einigen! Letztlich geht es aber darum, dass andere mit meinen Wertvorstellungen zurechtkommen und ich mit ihren, selbst wenn wir sie nicht teilen.

«Toleranz ist eindeutig eine Kopfsache.»

Rayk Sprecher
Philosoph

Was empfinden Sie, wenn Sie Toleranz erfahren?
Ich fühle mich ernst genommen, wenigstens dann, wenn Toleranz nicht einfach eine herablassende Duldung ist, sondern sich mit mir auseinandersetzt und wechselseitig wird. Dabei bleibt die Ablehnung bestehen, führt aber nicht zur Intervention.

Und umgekehrt: Wie reagieren Sie auf Intoleranz?

Die anspruchsvolle Option besteht darin, Toleranz einzufordern und an das Gegenüber zu appellieren – im Sinne von: «Ich spüre gerade nur Ablehnung. Lass dir doch bitte erklären, weswegen ich diese Haltung habe oder so handle, wie ich handle!» Sollte das nicht funktionieren, bleibt Distanzierung als Option, um sich aus dem Konflikt zu lösen.

Als Philosoph sind Sie Experte für die Analyse von komplexen Begriffen. Was bedeutet Toleranz genau?

Ich lehne mich an den deutschen Philosophen Rainer Forst an, der von Toleranz als täglichem Balanceakt spricht. Das ist eine schöne Beschreibung: Toleranz beginnt an der Grenze, an der wir Haltungen, Meinungen und Handlungen anderer nicht mehr teilen, sondern ablehnen. Kommen zur Ablehnung aber Gründe hinzu, das Abgelehnte nicht zu bekämpfen, sondern sein zu lassen und zu dulden, dann sprechen wir von Toleranz. Tolerant zu sein meint also nicht, alles gut zu finden, das wäre ein Missverständnis. Sie meint, dass man sogar stehen lassen kann, was man ablehnt.

Sprechen Sie von Gleichgültigkeit?

Nein, im Gegenteil: Toleranz kommt nur dann ins Spiel, wenn uns die Dinge etwas angehen und wir involviert sind. Deshalb ist das wahre Gegenteil von Toleranz nicht Intoleranz, sondern Indifferenz. Wem alles egal ist, der braucht auch keine Toleranz.

Ist diese Balance, die Sie erwähnen, stabil?

Der «Balanceakt» umschreibt das labile Gleichgewicht zwischen Ablehnung und Duldung. Das heisst, die Waage kann jederzeit kippen: Entweder auf die Seite der Akzeptanz oder auf die Seite der Bekämpfung. Die Balance zu halten, braucht Arbeit.

«Toleranz ist eine wesentliche Voraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen.»

Rayk Sprecher
Philosoph

Welche Rolle spielt Toleranz im gesellschaftlichen Zusammenleben?

Wenn alle einer Meinung wären, bräuchte es keine Toleranz. Unsere Gesellschaft ist aber vielfältig, Menschen haben ganz verschiedene moralische Ansichten, religiöse Hintergründe und Lebensstile. Zugleich sind wir aufeinander angewiesen. Für ein Nebeneinander und erst recht für ein Miteinander braucht es Toleranz, denn so führen Konflikte nicht in eine Eskalation. Toleranz ist eine wesentliche Voraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen.

Welche gesellschaftspolitischen Faktoren sind dabei förderlich oder hemmend?

Wenn die Politik selbst ein schlechtes Beispiel gibt, etwa durch Populismus und Ausgrenzung, dann ist das sicher nicht zuträglich, weil solches Verhalten kopiert, übernommen oder sogar für akzeptabel gehalten werden könnte. Um den Balanceakt meistern zu können, braucht es Wissen und Austausch. Wissen trägt dazu bei, die eigene Toleranzgrenze ausdehnen zu können, die Beweggründe anderer verstehen zu lernen und Irrtümer einzugestehen.

Ein Eingeständnis?

Genau, das können Politiker und Politikerinnen nicht sonderlich gut. Es liesse sich damit aber ein Zeichen setzen im Sinne von: Wir alle lernen, und niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet.

In der Pandemie waren die Fronten zunehmend verhärtet. Liegt das an der mangelnden Toleranz?

Ich glaube schon, dass Toleranz gesellschaftlich aktuell abgenommen hat. Das liegt auch daran, dass Toleranzgrenzen von aussen, also auf rechtlichem Weg, gesetzt wurden und Freiheiten eingeschränkt. Jetzt müssen wir wieder lernen, diese Grenzen auszuhandeln und auszudiskutieren – mit guten Gründen und Argumenten. Dabei steht immer in Frage, welches Verhalten andere schädigen könnte und daher abzulehnen ist. Genau das ist die Hauptdiskussion innerhalb einer Pandemie – und Grund für Konflikte.

Erstaunt Sie die Heftigkeit der Konflikte, die entstanden sind?

Die vergangene Zeit zeigt, wie schnell für selbstverständlich gehaltene Werte ins Wanken geraten. Das finde ich durchaus beunruhigend. Ich hoffe aber, dass sich mit dem Ende der Pandemie die Debatte über Toleranz wieder aufnehmen lässt und wir aus der Erfahrung lernen können. Es wäre wichtig, rückblickend darüber zu diskutieren, auszuwerten und aufeinander zuzugehen.

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«Sobald man an die sogenannten Ränder der Gesellschaft schaut, nimmt die Notwendigkeit von Toleranz zu.»

Rayk Sprecher
Philosph

Kann Toleranz auch ohne Dialog gelebt werden?

Ja, man kann sein Gegenüber einfach dulden und in Ruhe lassen. Diese Form der Toleranz hat aber etwas Herablassendes und Einseitiges. Wünschenswert ist wechselseitige Toleranz. Und dafür braucht es Dialog. In manchen Fällen mag der sogar zu Akzeptanz führen.

Gibt es Personen, die im Leben besonders auf Toleranz angewiesen sind?

Sobald man an die sogenannten Ränder der Gesellschaft schaut, nimmt die Notwendigkeit von Toleranz zu.

Sie sprechen von Randgruppen?

Genau, wobei das wünschenswerte Ziel im Umgang mit diesen Menschen eigentlich nicht Toleranz ist, da diese noch Ablehnung beinhaltet, sondern verstärkt auch Akzeptanz. Ein Verständnis für die betroffenen Menschen und ihre Lebensgeschichten ist wichtig, um sie immerhin als tolerierte Mitglieder der Gesellschaft sehen zu können.

Eigentlich ist die Gesellschaft gegenüber Randgruppen toleranter geworden. Das zeigt sich am Beispiel Sucht. Diese wurde als Krankheit anerkannt. Auch Arbeitslosigkeit gilt heute nicht mehr als selbstverschuldet.

Ich teile diesen Eindruck. Das zeigt sich ja unter anderem im Begriff «suchtkrank». Diese Wortverbindung hebt das Selbstverschulden in Bezug auf die Sucht ein Stück weit auf. Betroffene Personen sind sichtbarer geworden und das Wissen über die Hintergründe von Ausgrenzung hat zugenommen.

Welche Rolle spielen dabei Organisationen wie die Stiftung Terra Vecchia?

Sie übernehmen eine wichtige, stellvertretende Rolle für betroffene Personen, sofern diese nicht selbst nach aussen treten wollen oder können. Die Organisationen vermitteln Geborgenheit nach innen und Wissen nach aussen, was eine Voraussetzung ist, um Toleranz zu fördern.

Welche Mittel eignen sich dazu?

Kommunikation auf allen Kanälen ist heutzutage enorm wichtig. Dabei sollten Betroffene aber nicht dauervertreten werden, sondern auch für sich selbst sprechen können, ihre Lebenswege aufzeigen und beispielsweise darlegen, was es bedeutet, auf der Strasse zu leben. Viele Organisationen erfüllen diesen Auftrag sehr gut.

Wie wirkt sich Toleranz auf jene Menschen aus, die sie erfahren?

Wechselseitige Toleranz fördert Verständigung: Wer tolerant ist, ist auch neugierig – und umgekehrt. Toleranz kann aber auch zu Kränkung führen, wenn man nur geduldet wird, so lange man den anderen nicht in die Quere kommt.

Toleranz kann zu Kränkung führen?

Ja, solange sie einseitig bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass Toleranz nicht nur individuell unterschiedlich ist, sondern auch situativ und nach Tagesform. An einem Tag suche ich den Austausch und am anderen reagiere ich unwirsch. Die Balance ist nicht einfach etabliert, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Toleranz ist nie fertig.

«Ich glaube, dass uns eine grundsätzliche Neugierde an der Welt dazu anleiten könnte, mehr zu verstehen und weniger zu intervenieren.»

Rayk Sprecher
Philosoph

Das klingt anspruchsvoll. Wie lernt man, ein toleranter Mensch zu sein?

Das Stichwort Neugier passt an dieser Stelle ganz gut. Zuallererst hilft aber ein bisschen Distanz: Wenn Sie mit einer Meinung oder Haltung konfrontiert werden, die bei Ihnen Ablehnung auslöst, zählen Sie doch innerlich erstmal langsam bis drei. Dann fragen Sie sich selbst, welche Gründe Ihre Ablehnung hat. Und dann suchen Sie nach Gründen, warum Sie das Verhalten dennoch tolerieren könnten. Ich glaube, dass uns eine grundsätzliche Neugierde an der Welt dazu anleiten könnte, mehr zu verstehen und weniger zu intervenieren.

Welche Kompetenzen sind dazu erforderlich?

Neugier, Empathie und ein Interesse dafür, wie unsere Welt funktioniert und was andere Menschen umtreibt, was ihnen wichtig ist und warum. Ganz generell lässt sich das mit Offenheit umschreiben. Das heisst immer noch nicht, dass ich allem zustimmen muss, was das Gute an der Toleranz ist.

Es gibt viele Zitate zur Toleranz. Ich nenne drei Beispiele und bitte Sie, die Zitate kurz zu kommentieren:

«Ohne Toleranz können wir kein Mitgefühl entwickeln.» (Dalai Lama)

Schönes Zitat – man kann es auch umdrehen: Ohne Mitgefühl können wir keine Toleranz entwickeln, da spielt eine Wechselseitigkeit.

«Toleranz ist das unbehagliche Gefühl, der andere könnte am Ende doch recht haben.» (Robert Frost)

Das könnte tatsächlich passieren, wenn man sich austauscht. Wer offen ist für den Dialog, geht auch die «Gefahr» ein, sich am Ende von etwas anderem überzeugen zu lassen. Insofern birgt Toleranz, als eben diese Balance, auch diese Option.

«Dummköpfe zu ertragen, ist sicherlich der Gipfel der Toleranz.» (Voltaire)

Andere als Dummköpfe zu bezeichnen, ist vermutlich nicht der Weg der Toleranz. Ich behaupte, dass eine Gesellschaft auch ein gewisses Mass an Irrationalität aushalten muss, ohne sie als Dummheit abzukanzeln.

Wo liegen die Grenzen der Toleranz?

Ganz klar an jenem Punkt, wo grundsätzliche Rechte missachtet werden oder gar Gewalt ins Spiel kommt. Letztlich ist diese Frage aber kaum generell, sondern nur im konkreten Fall zu beurteilen. Wenn beispielsweise Personen durch ein bestimmtes Verhalten andere schädigen, ist Einspruch und nicht Toleranz gefragt.

Wann sind Sie zum letzten Mal an Ihre Toleranzgrenze gestossen?

Da geht es mir wie vielen anderen: Auslöser war die Pandemiesituation. Ich habe mit Personen diskutiert, die ihre individuelle Freiheit über die kollektive Freiheit stellen – und damit meine Toleranz recht herausgefordert haben, bis hin zu einem Abbruch der Kommunikation.

Wie reagieren Sie auf solche Herausforderungen?

Erstmal gehen, dann bis drei zählen – und wieder von vorne beginnen.

 

Interview: Monika Bachmann

Rayk Sprecher hat in Chemnitz und Freiburg im Breisgau Philosophie, Politikwissenschaft und Französisch studiert. Heute lebt er in Luzern. Er ist Mitinhaber von kriteria.ch, als öffentlicher Philosoph, Berater und Moderator tätig. Zudem arbeitet er an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Der 46-Jährige macht auch Kleinkunst: Er steht regelmässig mit der Kabarett-Reihe «Standup Philosophy» auf der Bühne. Rayk Sprecher ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.